Perspektiven für die Psychopneumologie: Sieben zukunftsträchtige Themen von „Beatmung“ bis „Kümmerer“ (Teil 1)
- On 18. Dezember 2020
Jenseits von „Corona“ gab es 2020 eine Fülle von interessanten psychopneumologischen Veröffentlichungen. Eine subjektive Auswahl präsentiert sieben verheißungsvolle Ansätze für die unterschiedlichsten psychosozialen Bedürfnisse von Patienten mit Chronischen Lungenerkrankungen. Los geht es heute mit Teil 1 zum Thema „Beatmung“.
Perspektive 1: die psychische Gesundheit von Intensiv-Patienten mit Atemnot, akutem Lungenversagen und psychologischen Traumata
Als Warnung und als Aufruf zur Forschung – so wollen die Autoren (Worsham CM, Banzett RB, Schwartzstein R) ihren Beitrag in der Fachzeitschrift CHEST verstanden wissen. Unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie weisen sie auf ein drängendes Problem von Intensiv-Patienten mit akuter respiratorischer Insuffizienz (ARDS) hin: auf die Luftnot unter der Beatmung.
Dieses Phänomen wird während der Intensivbehandlung häufig falsch eingeschätzt oder sogar übersehen. Dabei ist Atemnot eine sehr beängstigende Erfahrung vieler Beatmungs-Patienten.
Schlüssig legen die Autoren dar, worin sie das hohe psychologische Traumatisierungs-Potenzial der üblicherweise angewandten Therapie-Algorithmen bei ARDS begründet sehen:
- Die empfohlenen Beatmungsstrategien mit niedrigen Atemzugvolumina (Tidalvolumina) reduzieren den Lungenschaden und führen in klinischen Studien zu höheren Überlebensraten bei Patienten mit ARDS. Durch niedrig eingestellte Atemzugvolumina erleben Patienten jedoch häufig Lufthunger – trotz Ruhigstellung (Sedierung). Lufthunger gilt als die subjektiv belastendste Form der Atemnot. Er aktiviert Prozesse im Gehirn, die an der Entstehung von Angstzuständen, Depressionen und von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) beteiligt sind.
- In seltenen Fällen genügen Schmerzstillung (Analgesie) und Ruhigstellung (Sedierung) bei beatmeten Patienten nicht aus. Die dann notwendige neuromuskuläre Blockade verhindert oder mindert den Lufthunger nicht – sie maskiert nur die Symptome der Unruhe. Gleichzeitig hindert sie Patienten daran, ihre Beschwerden mitzuteilen. Die künstlich erzeugte Lähmung kann so den Leidensdruck erheblich steigern und zur Entwicklung einer PTBS beitragen. Diesbezügliche Studienergebnisse sind zwar nicht eindeutig, legen diese Deutung jedoch nahe.
- Die verwendeten Verfahren zur Ruhigstellung (Sedierung) bieten möglicherweise keinen ausreichenden Schutz der Patienten vor Gefühlen von Realitäts- und Kontrollverlust. Zudem weisen Studien darauf hin, daß die häufig eingesetzten Benzodiazepine keinen Einfluß auf die Atemnot-Erfahrung haben und das Risiko für psychologische Folgeerscheinungen eher erhöhen.
- Der Einfluß von deliranten Syndromen auf die Entwicklung von PTBS wird widersprüchlich bewertet. Sicher belegt sind jedoch die Zusammenhänge zwischen deliranten Syndromen während der Beatmung und kognitiven Einschränkungen nach Intensiv-Behandlung. Kognitive Störungen wiederum begünstigen die Entwicklung von psychologischen Folgeerscheinungen.
Die Autoren weisen auch auf mögliche Schutzfaktoren vor PTBS und anderen psychologischen Folgeerscheinungen durch die Intensiv-Behandlung hin:
- Während die Sedierung mit Benzodiazepinen (bzw. Propofol) mutmaßlich keinen positiven Einfluß auf die Atemnot-Erfahrung (bzw. auf die Aktivierung der relevanten Gehirnstrukturen) hat, führt der Einsatz von Opioiden zu einer Minderung von Atemnot. Studien zeigen zudem keinen Zusammenhang zwischen Opioid-Gabe und PTBS nach Intensiv-Aufenthalt.
- Bei beatmeten ARDS-Patienten kommen häufig Corticosteroide zum Einsatz. Einige Studien legen nahe, daß Corticosteroide vor der Entwicklung einer PTBS nach Intensiv-Behandlung schützen. Die Zusammenhänge müssen jedoch intensiver erforscht werden.
Welche Empfehlungen zum Wohle von Beatmungs-Patienten ergeben sich für die Autoren aus dieser Gemengelage?
- Die psychologischen Folgen der Intensiv-Behandlung von ARDS-Patienten müssen in klinischen Studien genauer erfaßt und tiefer erforscht werden. Das gilt in gleicher Weise für die invasive Beatmung mit niedrigen Tidalvolumina, für die neuromuskuläre Blockade, für die Bauchlage und für die Extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO).
- Die Schulung von Intensiv-Fachkräften (Beatmungsmediziner, Pflegekräfte, Atmungstherapeuten, Physiotherapeuten, Pharmakologen) muß auf die herausfordernden Aspekte eines angemessenen Atemnot-Managements zielen.
- Während einer Intensiv-Behandlung wird eine Fülle von physiologischen und klinischen Daten für jeden Beatmungs-Patienten erhoben. Die umfangreichen Datensätze von Beatmungsgeräten könnten beispielsweise genutzt werden, um den Einfluß von Beatmungsparametern oder Beatmungsasynchronie auf die Atemnot-Erfahrung und deren psychologische Auswirkungen zu erforschen.
Fazit aus Perspektive 1:
Die Autoren verweisen auf den Grundsatz „Primum nihil nocere!“ (Erstens nicht schaden!). Er gilt auch für die häufige lebensrettende Intensiv- und Beatmungsmedizin. Körperliche Schäden und Sterblichkeit zu minimieren sind die grundlegenden Ziele der Intensiv-Behandlung. Dabei darf aber das Risiko von psychologischen (Langzeit)Folgen bei den Überlebenden (und bei ihren Angehörigen!) nicht vergessen werden. Ein verstärktes Augenmerk auf die häufig vernachlässigten Atemnot-Erfahrungen von Beatmungs-Patienten ist dabei ein wichtiger Baustein.
Soweit der Beitrag in CHEST. Es folgen noch ein paar subjektive Einschätzung für die psychopneumologischen Aufgaben auf einer Beatmungs- und Weaning-Station.
Ein „klassischer“ Beatmungs-Patient zeigt möglicherweise folgende vorbestehende psychosomatisch relevante Einflußfaktoren:
- Chronische Lungenerkrankung (z. B. COPD)
- Adipositas
- KHK und/oder Herzinsuffizienz
- Metabolisches Syndrom (Diabetes mellitus)
- Abhängig-ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstruktur (Abhängigkeitserkrankung, Angst/Panikstörung, Depression)
Hinzu kommen folgende durch die Intensiv-Behandlung erworbenen psychosomatisch relevanten Einflußfaktoren:
- Muskelschwäche
- Elektrolytstörungen
- Delir
- Angst, Depression, PTBS
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für psychopneumologische Interventionen während der Intensiv-Behandlung?
- Neuropsychiatrische Einschränkungen (z. B. durch Delir, Panikattacken, sekundäre Ventilatorabhängigkeit) müssen berücksichtigt werden.
- Zerebrale Funktionsstörungen (z. B. durch Elektrolytstörungen wie Dysnatriämie) müssen beachtet werden.
- Individuelle Atemnot-Erfahrungen (z. B. durch Beatmungsverfahren, medikamentöse Therapie) müssen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.
Es ist sehr ermutigend, daß die Autoren des CHEST-Artikels aus der Fülle der Probleme die existentiell bedeutsame Atemnot-Erfahrung herausgreifen und auf ihre gründliche Erforschung drängen. Die oben angeführte subjektive Aufstellung läßt aber auch erahnen, wie komplex die psychopneumologischen Zusammenhänge bei Beatmungs-Patienten sein können. Es gibt auch 2021 viel zu tun, damit Intensiv-Patienten besser vor psychologischen Traumata und psychischen Folgeerscheinungen geschützt werden.
Mit herzlichen Grüßen von www.monikatempel.de
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