Leben mit Atemnot: ein neues Konzept erweitert den Atem-Raum
- On 30. Juni 2018
Patienten mit fortgeschrittenen chronischen Lungenerkrankungen (wie COPD, Alpha1-Antitrypsin-Mangel, Asthma, Lungenfibrose, Pulmonale Hypertonie) leiden – trotz optimaler Therapie der Grunderkrankung – häufig an Luftnot. Lange Zeit galt deshalb die Devise: Kampf gegen die Atemnot! Inzwischen fokussieren Studien zunehmend auf das Leben mit Atemnot. Das hier vorgestellte „Atem-Raum“-Konzept soll zu einem besseren Verständnis der Atemnot-Erfahrung von Patienten, Angehörigen und Behandlern beitragen und neue Therapiewege eröffnen.
Welche Themen untersucht das „Atem-Raum“-Konzept?
Bei einer systematischen Auswertung von 101 qualitativen Studien (Hutchinson A et al., 2018) finden sich vier zentrale Themen:
- weitreichende Auswirkungen von Atemnot
- Verarbeitung von Atemnot (= Coping)
- hilfreiches Verhalten bei Atemnot
- Behandler-Reaktionen auf Atemnot
Es lohnt, diese vier zentralen Themen näher zu betrachten. Die Ergebnisse der Analyse fließen ein in das „Atem-Raum“-Konzept und verweisen auf neue Behandlungsansätze.
1. Wie erleben Patienten und Angehörige die Atemnot?
Atemnot wird in zwei Hauptausprägungen wahrgenommen:
- als ständige (chronische) Atemnot
- als Atemnot-Attacke
- Die Atemnot-Attacken sind meist kurz (< 10 Minuten), treten häufig auf und enden oft von selbst. Es gibt unvorhersehbare Atemnot-Attacken und Atemnot-Attacken durch bekannte Auslöser (körperliche Belastung, emotionale Belastung, Begleiterkrankungen, Umgebungsfaktoren wie Düfte, Dämpfe, Rauch…)
Die Atemnot wird subjektiv und sehr unterschiedlich erlebt, z. B. als
- Anstrengung
- Brustenge
- Lufthunger
- erschwerte Einatmung
Atemnot ist häufig (aber nicht immer!) abhängig von Belastung: zunächst tritt sie bei starker Belastung auf, später bei leichter Belastung (wie Ankleiden, Toilettengang, Essen, Sprechen).
Die subjektiv empfundene Atemnot stimmt nur wenig überein mit der objektiv gemessenen Lungenfunktion.
Typische Atemnot-Schilderungen klingen etwa so:
- „Ich habe bei den Anfällen Angst zu ersticken – Todesangst!“
- „Es ist ein ständiger Kampf. Er raubt mir alle Kraft. Ich vegetiere nur noch statt zu leben.“
- „Außenstehende können nicht nachvollziehen, was Atemnot bedeutet.“
- „Es ist peinlich, bei der kleinsten Belastung aus der Puste zu kommen.“
- „Hätte ich nur nicht so viel geraucht. Ich bin selbst schuld, daß ich keine Luft bekomme.“
- „Mein Hausarzt ist ratlos. Deshalb rufe ich bei Luftnot-Anfällen gleich den Notdienst.“
Angehörige von Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen berichten von Hilflosigkeit bei Atemnot-Attacken und großer Belastung.
Das Konzept der „Total Dyspnea“ („Totale Atemnot“ analog zum Konzept „Totaler Schmerz“ von Cicely Saunders) beschreibt die vielfältigen Auswirkungen auf vier Ebenen:
- körperlich
- psychisch
- sozial
- existentiell
Wie gehen Patienten und Angehörige mit Atemnot um?
Die Verarbeitung (= Coping) beeinflußt entscheidend die Lebensqualität von Atemnot-Patienten und ihren Angehörigen. Man kann unterscheiden zwischen nicht-engagiertem und engagiertem Coping.
Nicht-engagiertes Coping ist beispielsweise gekennzeichnet durch
- Problemvermeidung
- Wunschdenken
- Selbstkritik (Selbstbeschuldigung, Selbstbeschämung)
- Sozialen Rückzug
Engagiertes Coping umfaßt unter anderem
- (aktives) Problemlöse-Verhalten
- Kognitive Umstrukturierung (Gedankliche Neubewertung)
- Gefühlsausdruck (Gefühlsmitteilung)
- Suche nach sozialer Unterstützung
Beispiele für engagiertes Atemnot-Coping sind:
- (aktives) Problemlöse-Verhalten
- „Ich dusche erst nachmittags, weil ich mich dann besser fühle. Ich wähle die Wassertemperatur nur wenig über meiner Körpertemperatur – so vermeide ich Dampf…“
- Kognitive Umstrukturierung (Gedankliche Neubewertung)
- „Ich habe ein Motto: Ich werde nicht ewig leben, aber ich werde so lange wie möglich so gut wie möglich leben!“
- Gefühlsausdruck (Selbstbekenntnis statt Selbstbeschuldigung)
- „Ich hab´s verbockt durch mein Rauchen. Es war in meiner Jugend cool zu rauchen. Das Risiko hab´ ich verdrängt. Darauf bin ich nicht stolz – aber ich akzeptiere es.“
- Suche nach sozialer Unterstützung (z. B. in einer Selbsthilfe-Gruppe)
- „Es tut gut, mit Leuten über die Atemnot zu reden, die wissen, was Du meinst. Und Du bekommst manchen guten Tip.“
Welche Schritte umfaßt das hilfesuchende Verhalten bei Atemnot?
Typischerweise umfaßt hilfesuchendes Verhalten vier Schritte:
- Erkennen: Ich habe ein Problem, das ich lösen möchte.
- Entscheiden: Ich unternehme etwas, um mein Problem zu lösen.
- Wählen: Ich wähle einen Helfer.
- Mitteilen: Ich offenbare dem Helfer mein Problem.
So sehen mögliche Hürden auf dem Weg zu hilfesuchendem Verhalten bei chronischen Lungenerkrankungen aus:
- Erkennen:„ Ich habe lange geglaubt, die Atemnot kommt vom Alter…“
- Entscheiden: „Ich bin doch selbst schuld an der Atemnot, weil ich rauche. Soll ich wirklich meinem Hausarzt die kostbare Zeit stehlen…?“
- Wählen: „Es hat eine Weile gedauert, bis ich kapiert habe, daß der Lungenfacharzt der richtige Ansprechpartner für meine Atemnot ist…“
- Mitteilen: „Es ist mühsam, immer und immer wieder alles zu erklären… Du hast keine Puste und kriegst immer weniger Luft, während du versuchst zu erklären, warum Du keine Luft bekommst!“
Manche Patienten finden durch ihr hilfesuchendes Verhalten eine Lösung für das Leben mit Atemnot – andere bleiben unzufrieden, hilflos und resignierend zurück. Auch das ist leider die Wirklichkeit.
Es gibt Zusammenhänge, die möglicherweise die Effektivität des hilfesuchenden Verhaltens steigern können. Denn: Wie erfolgreich das hilfesuchende Verhalten ist, hängt nicht nur von der Wahl und Mitteilung des Patienten ab, sondern auch von der Aufmerksamkeit und von der Reaktion des Behandlers.
Wie reagieren Behandler auf die Atemnot ihrer Patienten?
Patienten wählen aus, welche Informationen über Symptome, Befinden und Verhalten sie ihrem Behandler mitteilen. Durch diese Auswahl des Patienten und die Aufnahmebereitschaft des Behandlers steigt die Gefahr für zwei Formen von Ungenauigkeit:
- Mitteilungs-Ungenauigkeit (meist aufgrund von Zeitmangel)
- Verständnis-Ungenauigkeit (meist aufgrund von Erfahrungsmangel)
Schlimmstenfalls resultiert aus diesen Problemen bei Patienten, Angehörigen und Behandlern, die Einstellung: „Es nützt nichts mehr!“
Bei gelungener Kommunikation fühlen sich Patienten, Angehörige und Behandler besser gerüstet für das Leben mit Atemnot: „Ich weiß jetzt, wie die Krankheit verläuft. Ich kenne ein paar einfache Tips zum Umgang mit der Atemnot und das macht mich weniger hoffnungslos.“
Das „Atem-Raum“-Konzept
Der „Atem-Raum“ ist eine Metapher (Sprachbild) für das Leben mit Atemnot. Der „Atem-Raum“ kann enger oder weiter sein.
Ein enger Atem-Raum entsteht:
- bei nicht-engagiertem Coping
- bei fehlender oder verspäteter Suche nach Hilfe
- bei Reaktionslosigkeit oder unpassender Reaktion der Behandler
Den Atem-Raum weiten können:
- engagiertes Coping
- zeitgerechte Suche nach Hilfe (nicht nur im Krisenfall!)
- angemessene Reaktion der Behandler
Wie kann der „Atem-Raum“ psychopneumologisch genutzt werden?
Grundlegend ist der Perspektivenwechsel im Umgang mit der Atemnot:
- vom „Kampf gegen Atemnot“ – zum „Leben mit Atemnot“
- von Vermeidung, Verleugnung, Flucht – zu Akzeptanz, Anpassung, Teilhabe
Typische Patienten-Aussagen nach einem vollzogenen Perspektivenwechsel lauten etwa: „Ich habe den Blickwinkel geändert. Ich kann bestimmte Dinge nicht mehr machen. Also sag´ ich mir: OK, was kann ich stattdessen machen? Und das mache ich!“
Ein weiteres neues Element ist der Blick auf das Wohlbefinden trotz Krankheit. Im „Atem-Raum“ gilt:
- statt kompletter Vertreibung der Atemnot – das (möglichst gute) Weitermachen mit Atemnot
- statt Fixierung auf Symptomfreiheit – Wohlbefinden im Sinne von Gelassenheit
Der Atem-Raum zeigt viele Gemeinsamkeiten mit dem Breathing-Thinking-Functioning-Modell der Atemnot (BTF-Modell) und dem IARA-Modell.
Auf der Grundlage von „Atem-Raum“, BTF-Modell (Teil 1 – Teil 2) und IARA-Modell biete ich in Kürze einen Selbstlern-Kurs an.
Im Selbstlernkurs „Atempause auf der LungenCouch: dösen – denken – durchatmen“ geht es auch (aber nicht nur!) um das Leben mit Atemnot.
Wenn Du teilnehmen möchtest, melde Dich einfach bei meinem Newsletter an. Newsletter-Abonnenten erhalten den Zugang zu den Unterlagen automatisch nach dem Start des Angebotes.
Mit herzlichen Grüßen von Monika Tempel [Sauerstoff und Sinn] www.monikatempel.de
0 comments on Leben mit Atemnot: ein neues Konzept erweitert den Atem-Raum