Drei Gründe, warum Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen beim Umgang mit dem „Corona-Virus“ möglicherweise die Nase vorn haben
- On 23. März 2020
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen (wie COPD, Asthma, Lungenfibrose, Alpha1-Antitrypsin-Mangel, Pulmonale Hypertonie, LAM …) gelten im Hinblick auf COVID-19 gemeinhin als Risikopatienten. Bei rein somatischer (körperlicher) Betrachtungsweise trifft das wohl leider zu. Eine psychopneumologische Betrachtungsweise eröffnet allerdings überraschende Perspektiven.
Risikofaktoren und Schutzfaktoren
Liest man die einschlägigen Patienten-Informationen zu COVID-19, so klingt es ziemlich einstimmig:
„Auch verschiedene Grunderkrankungen, wie z. B. … Erkrankungen des Atmungssystems … scheinen unabhängig vom Alter das Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf zu erhöhen.“
Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikogruppen.html
Der akute Krankheitsverlauf nach einer tatsächlich erfolgten Infektion mit SARS-CoV-2 (dem „Corona-Virus“) stellt also für Patienten mit Erkrankungen des Atmungssystems vermutlich eine größere Gefahr dar als für bisher Gesunde.
Angesichts dieser alarmierenden Einschätzung empfiehlt sich für Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen selbstverständlich, unbedingt Vorsicht walten zu lassen und sich besonders umsichtig zu verhalten.
In Zeiten einer Pandemie kommt es aber nicht nur auf die Chancen bei tatsächlicher Infektion an. Alle – ob chronisch Kranke oder Gesunde – sind herausgefordert durch ein winziges Virus, das die Welt, wie wir sie kennen, innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert hat und laufend verändert.
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen kennen diese Situation. Sie wissen allerdings auch, daß nicht nur die körperliche Verfassung den Umgang mit einer Bedrohung und den Verlauf einer Krankheit bestimmt.
Es lohnt sich also, den Blick weg von den Risiko-Faktoren hin zu den Schutz-Faktoren zu lenken. Im Hinblick auf Schutz-Faktoren haben Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen nämlich möglicherweise entscheidende Vorteile gegenüber den bisher Gesunden.
Schutzfaktor 1: Ganzheitliches Krankheits-Konzept
Die Kategorie „Körper“ ist nur ein Aspekt im Erleben von Krankheit ist. Ein umfassendes, ganzheitliches Krankheits-Konzept berücksichtigt deshalb mindestens vier Kategorien:
- Körper
- Psyche
- Sozialleben
- Spiritualität
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen wissen um diese Kategorien. Sie haben meist in der Pneumologischen Rehabilitation, in der Selbsthilfe-Gruppe oder im Lungensport Einzelheiten darüber erfahren.
Viele von ihnen erleben immer wieder das untrennbare Wechselspiel zwischen Lunge und Psyche, z. B. zwischen Atemnot und Angst oder zwischen Exazerbation und depressiver Stimmung. Dann gilt es, mit Hilfe von psychopneumologischen Methoden das „Monster“ Atemnot zu bändigen oder die schwarze Wolke Depression vorüberziehen zu lassen.
Glücklicherweise haben auch viele Patienten im Laufe ihrer chronischen Lungenerkrankung ein tragfähiges soziales Netz geknüpft. Dieses Netz kann sich in Pandemie-Zeiten als besonders hilfreich erweisen. Die Beteiligten kennen einander; sie wissen um die Besonderheiten, die Vorlieben und die Abneigungen. Fallstricke können routiniert gemieden werden.
Fazit:
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen profitieren von ihren Erfahrungen mit einem ganzheitlichen Krankheits-Modell. All das müssen bisher Gesunde erst mühsam entdecken und erproben.
Schutzfaktor 2: Effektive Bewältigungs-Strategien
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen (und ihre „Kümmerer“) werden im Krankheitsverlauf zu Coping-Experten. Manchmal gezwungen, mitunter aber auch freiwillig engagiert, entwickeln sie individuelle und kreative Bewältigungs-Strategien für den Alltag.
Ob einzeln oder gemeinsam: Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen können:
- Emotionen regulieren
- Gedanken (neu) bewerten
- Probleme analysieren
- Lösungen entwickeln und erproben
Fazit:
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen können auf effektives Coping (bzw. Dyadisches Coping) zurückgreifen. Bisher Gesunde müssen sich passende individuelle und gemeinsame Bewältigungs-Strategien erst mühsam erarbeiten.
Schutzfaktor 3: Umgang mit Ungewißheit
Am 21.3.2020 veröffentlichte die Leopoldina aus gegebenem Anlaß eine Ad-hoc-Stellungnahme mit dem Titel: „Coronavirus-Pandemie in Deutschland: Herausforderungen und Interventionsmöglichkeiten“
Darin findet sich der bemerkenswerte Satz: „Diese hochdynamische und so noch nicht dagewesene Situation birgt Unsicherheiten und erfordert unkonventionelle Lösungen, deren Auswirkungen und nicht intendierte Nebenwirkungen in ihrer Tragweite größtenteils nicht vollständig antizipiert werden können.“
Der Umgang mit Unsicherheiten stellt für die meisten Menschen eine große Herausforderung dar. Viele Facetten müssen in einer solchen Situation bewältigt werden:
- Widersprüchlichkeit
- Willkürlichkeit
- Komplexität
- Unvorhersehbarkeit
- Informationsdefizit
Manche sehen in der Fähigkeit zum Aushalten von Ungewißheit und Widersprüchlichkeit (Ambiguitäts-Toleranz) ein Merkmal von Reife und Weisheit.
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen müssen diese Fähigkeit durch die Besonderheiten des Krankheits-Verlaufs quasi im „Crash-Kurs“ erwerben. Viele von ihnen entwickeln so – mehr oder weniger freiwillig – ein hohes Maß an Bereitschaft (Akzeptanz) und Gelassenheit.
Fazit:
Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen können in der Regel Ungewißheit und Widersprüchlichkeit aushalten. Diese Fähigkeit müssen bisher Gesund erst mühsam erwerben.
Wer hätte das gedacht?
In Zeiten der COVID-19-Pandemie verfügen Patienten mit chronischen Lungenerkrankungen möglicherweise über stärkere emotionale und soziale Schutzfaktoren, über effektivere Bewältigungs-Strategien und über einen besseren Umgang mit Unsicherheiten als bisher Gesunde.
Wer mehr über die erwähnten erfahren möchte, kann in den folgenden Blog-Beiträgen stöbern:
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